blaues Foto mit 5 weißen Papierfliegern und einem roten Flieger, der einen anderen Weg einschlägt. Symbolbild fürs Umdenken.
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Einfach mal umdenken! Bürgerbeteiligung in der Corona-Krise

Gerade in der Stadtplanung und Stadtentwicklung kommt der Bürgerbeteiligung eine wichtige Bedeutung zu. Hier ist sie auch schon lange verankert. Der Fokus lag und liegt in vielen Städten und Gemeinden auf Informations-Veranstaltungen, Bürgerforen oder Stadtteilspaziergängen. Vor-Ort-Termine also, bei denen viele verschiedene Menschen zusammenkommen und sich miteinander austauschen. Doch was tun, wenn unvorhergesehene Krisen wie die Corona-Pandemie genau solche Formate unmöglich machen? Bei der Umgestaltung der Friedberger Kaserne „Ray Barracks“ wurde aus der Not eine Tugend gemacht. Stadt und Projektpartner wollten Bürgerbeteiligung auch in der Corona-Krise ermöglichen. Sie setzten daher kurzfristig auf Online-Bürgerbeteiligung – mit Erfolg, wie Marius Becker, Projektleiter bei der ProjektStadt, in diesem Beitrag berichtet. Ein Bürgerbeteiligungs-Leuchtturm in Zeiten von Corona.

Ray Barracks zum lebendigen Stadtquartier umgestalten

Das ehemalige Kasernengelände „Ray Barracks“ verbinden viele Menschen in Hessen mit Elvis Presley. Die Rock‘n Roll-Ikone war hier einige Zeit stationiert. Seit dem Abzug der amerikanischen Soldaten im Jahr 2007 liegt das Areal brach. Mit seinen 74 Hektar bietet das Gelände im Süden der Wetterauer Kreisstadt Friedberg jedoch sehr viel Potenzial. Genau das will die Stadt nun entwickeln und dort insbesondere bezahlbaren Wohnraum schaffen. Daher hat die Stadt Friedberg die Unternehmensgruppe Nassauische Heimstädte | Wohnstadt (NHW) bzw. deren Tochter, die Bauland-Offensive Hessen GmbH (BOH), mit der Erstellung einer Machbarkeitsstudie beauftragt. Ziel ist es, das Kasernenareal zu einem gemischt genutzten Stadtquartier zu entwickeln. Neben Wohnraum sollen dort etwa die Erweiterung des Campus der Technischen Hochschule Mittelhessen und ein neuer Feuerwehrstützpunkt Platz finden. Ebenso sind Flächen für Verwaltungsgebäude des Wetteraukreises und andere gewerbliche Nutzungen, Bauhof, Grundschule, Sporthalle, Stadthalle, Elvis-Museum, Hotel, zwei Kindertagesstätten und Einzelhandel vorgesehen.

Ansicht der ehemaligen Ray Barracks Kaserne Friedberg. Die Umgestaltung des Areals wurde mit einer Online-Bürgerbeteiligung begleitet.
Ray Barracks in Friedberg, © Steffen Diemer, ProjektStadt

Bürgerbeteiligung: Das A und O

Für die Stadt Friedberg und die Verantwortlichen der BOH war von vornherein klar: Ein solches Projekt braucht die Ideen und Meinungen der Bürgerinnen und Bürger. Sie sollen sich in Zukunft dort aufhalten, wohlfühlen, leben, arbeiten und zu Hause fühlen. Für die Einbindung der Bürgerinnen und Bürger wurden wir, die ProjektStadt, als für die Beteiligungsverfahren zuständige NHW-Marke beauftragt. Der Startschuss für die Beteiligung erfolgte beim „Tag der offenen Kaserne“ am 19. Oktober 2019. Die dabei gesammelten Planungshinweise und Anregungen der Bürgerinnen und Bürger zur Entwicklung des Kasernengeländes haben BOH und Stadt Friedberg in den folgenden Monaten strukturiert und weiterverarbeitet. Auf Basis der Auswertung der eingebrachten Anregungen und Ideen aus der Bürgerschaft, der Flächenkonzeption der Stadt Friedberg sowie weiteren fachplanerischen Überlegungen wurde der Entwurf des städtebaulichen Rahmenplans für die „Ray Barracks“ erstellt. Dieser – so war der Plan – sollte Ende April in einem Bürgerforum an verschiedenen Themeninseln beraten, diskutiert und anschließend für den politischen Beschluss fertiggestellt werden.

Bürgerbeteiligung trotz Corona-Krise

Die Corona-Pandemie brachte alle bisherigen Planungen durcheinander. Allen Beteiligten war klar: Die Bürgerinnen und Bürger sollten auf jeden Fall noch einmal zu Wort kommen. Der politische Beschluss zum Rahmenplan soll aber trotzdem 2020 gefasst werden – es brauchte ein Umdenken. Die Stadt Friedberg hatte bisher alle Bürgerbeteiligungsformate als Vor-Ort-Veranstaltungen vorgesehen. Man schätzt in Friedberg den unmittelbaren Austausch mit den Bürgerinnen und Bürgern. Als dies nun durch die Pandemie unmöglich wurde, brauchte es eine andere Lösung, die auch ohne persönlichen Kontakt umsetzbar war. Daher brachten wir von der ProjektStadt die Option einer Online-Beteiligung ins Gespräch. Denn diese Möglichkeit bieten wir in vielen städtischen Projekten, die wir koordinieren und betreuen, parallel zur Vor-Ort-Beteiligung an.

Umsetzung einer Online-Plattform in nur drei Wochen

Viel Zeit zum Umdisponieren blieb nicht. Dank des ProjektStadt-Partners wer|denkt|was war das glücklicherweise kein Problem. Als Experten für Online-Beteiligungsportale hatten sie eine schnelle und praktikable Lösung parat. So konnte die Plattform friedberg-mitmachen.de innerhalb kürzester Zeit an den Start gehen. In der Beteiligungsphase vom 27. April bis 11. Mai 2020 konnten registrierte und angemeldete Nutzende ihre Vorschläge und Anmerkungen zum Rahmenplanentwurf auf einer interaktiven Karte unter Angabe einer Ortsposition bzw. Setzen eines Markers auf der Karte eingeben. Ebenso war es möglich, Vorschläge zu kommentieren und zu bewerten. Um die vier zur Diskussion stehenden Themenbereiche abzugrenzen bzw. abzubilden – Grünordnung, Nutzungssynergien, Nutzungsverteilung sowie Verkehr/Mobilität – hatte die wer denkt was GmbH die interaktive Karte mit verschiedenen, anklickbaren Kartenschichten versehen. Das erleichterte die Handhabung und auch die Auswertung im Nachgang.

Digitale Ideenkarte bei der Online-Bürgerbeteiligung zur Umgestaltung des ehem. Kasernenareals Ray Barracks in Friedberg
Auf dieser Ideenkarte konnten die Bürgerinnen und Bürger der Stadt Friedberg ihre Vorschläge und Anmerkungen eintragen. © friedberg-mitmachen.de

Positives Feedback und hohe Beteiligung

Für die Friedbergerinnen und Friedberger war eine Online-Beteiligung über eine open-crowd-map Neuland. Denn die Stadt hatte bis dato hauptsächlich auf persönlichen Kontakt und Vor-Ort-Veranstaltungen gesetzt. Doch das Feedback fiel äußerst positiv aus: 116 Ideen, 109 Kommentare und 186 Bewertungen kamen zusammen. Sie sorgten nicht nur für einen „tollen Input für weitere Planungen“, wie der Bürgermeister der Stadt Friedberg, Dirk Antkowiak, betonte. Die Zahlen zeigen, dass trotz Corona und Kontaktbeschränkungen virtuell ein lebendiger Dialog zwischen Stadt und Bürgerschaft entstanden ist. Wir sind davon überzeugt, dass der Online-Dialog ein noch breiteres Spektrum an Meinungen und Ideen hervorgerufen hat. Denn während am runden Tisch meist nur zwei bis drei Wortführer ihre Ideen aussprechen, ist die Hürde für eher zurückhaltende Personen bei einer solchen Online-Beteiligung viel geringer. Das sehe ich als klaren Vorteil. Dies ist auch ein gutes Argument für eine crossmediale Bürgerbeteiligung: Vor-Ort kann am runden Tisch im Ping-Pong-Prinzip diskutiert werden; online kommen all jene zu Wort, die die Vor-Ort-Termine nicht wahrnehmen können oder sich in der Diskussion am runden Tisch eher zurückgehalten bzw. ggf. im Nachgang noch weitere Ideen entwickelt haben.

Wohnzimmer mit Tablet, auf dem die Online-Beteiligungsplattform friedberg-mitmachen.de sichtbar ist
Die Online-Beteiligungsplattform der Stadt Friedberg – friedberg-mitmachen.de – soll auch weiterhin einen wichtigen Kommunikationskanal zwischen Stadt und Bürgerschaft darstellen. © PhotoMIX Company, pexels.com

Der Bürgerdialog geht weiter

Die Corona-Krise hat der Stadt Friedberg ganz unverhofft eine Online-Beteiligungsplattform beschert. Diese soll die Bürgerinnen und Bürger der Stadt auch in Zukunft zu den Entwicklungen des Kasernenareals auf dem Laufenden halten und somit weiterhin als wichtiger Kommunikationskanal zwischen Stadt und Bürgerschaft dienen.

Fazit:

Wir von der ProjektStadt empfehlen Kommunen grundsätzlich eine crossmediale Bürgerbeteiligung, bei der sowohl Vor-Ort-Veranstaltungen als auch Online-Kanäle zum Einsatz kommen und sich gegenseitig ergänzen. Der Erfolg einer interaktiven Bürgerbeteiligung hängt von verschiedenen Faktoren ab. Zunächst einmal fordert der Nutzer die vollständige Transparenz über den Ablauf des Prozesses. Der Bürger will heute nicht mehr nur wissen, was entschieden wird, sondern auch wie. Die Menschen vor Ort sind oft erst dann bereit zum Mitmachen, wenn sie genau wissen, welche Beteiligungs- und Rückkopplungsmöglichkeiten es für sie im Laufe des gesamten Verfahrens gibt. In Friedberg ist es uns gut gelungen, diese Spielregeln von Beginn an klar zu definieren. Ein weiterer wichtiger Mehrwert der Online-Plattform friedberg-mitmachen.de ist die Informationsfunktion. In bürgernaher Sprache wird hier erläutert, was ein städtebaulicher Rahmenplan ist, was damit bezweckt wird und an welchen Stellen die Anwohnerinnen und Anwohner mitwirken können und sollen.

Beinahe noch wichtiger ist aber die Dokumentation des gesamten Prozesses, sodass die Nutzenden in der Lage sind, immer wieder nachzuvollziehen, wie es zu den bisherigen Ergebnissen gekommen ist. Wir sprechen hier gerne vom sogenannten „Beteiligungsgedächtnis“. Darüber hinaus kann die Plattform nun für weitere Prozessschritte jederzeit „reaktiviert“ werden, um beispielsweise einzelne Entwicklungsabschnitte in der Umsetzung zu begleiten.

 

Über den Autor:
Marius Becker ist Diplom-Geograf und zertifizierter Moderator Stadtentwicklung (vhw). Als Projektleiter Stadtentwicklung der ProjektStadt liegen seine Tätigkeitsschwerpunkte bei der Erarbeitung und Umsetzung integrierter Stadtentwicklungsstrategien sowie bei der Konzeption und Moderation von crossmedialen Beteiligungsverfahren.

Beitragsbild: © mohamed_hassan, pixabay.com