In einer repräsentativen Demokratie werden politische Entscheidungen durch demokratisch gewählte Repräsentantinnen und Repräsentanten getroffen. Gleichzeitig ist der Trend hin zu einem Mehr an Bürgerbeteiligung ungebrochen. Bürgerinnen und Bürger wollen sich stärker einbringen und ihr direktes Lebensumfeld mitgestalten. Ist das ein Widerspruch? In welchem Verhältnis steht Bürgerbeteiligung zur repräsentativen Demokratie? Werden politische Entscheidungen durch das Mitreden der Bürgerinnen und Bürger gestärkt? Oder werden politisch gewählte Repräsentantinnen und Repräsentanten durch ein Mehr an Bürgerbeteiligung still und leise in Abseits gestellt? Antonio Arcudi, Teamleiter bei wer|denkt|was, geht der Frage nach dem Verhältnis zwischen Bürgerbeteiligung und Demokratie in diesem Beitrag nach und wirft hierbei insbesondere ein Augenmerk auf die digitale Bürgerbeteiligung.
Bürgerbeteiligung: digital und analog
In der Vergangenheit beschränkte sich politische Partizipation meist darauf, regelmäßig an Wahlen teilzunehmen. Dieser Umstand wurde von einzelnen Stimmen durchaus positiv gedeutet: Die Bürgerinnen und Bürger hatten demnach mit dem Wahlakt ihre Pflicht erfüllt, politisches Desinteresse der Bürgerschaft wurde als Ausdruck allgemeiner Zufriedenheit angesehen. Unzufriedenheit wurde maximal in privaten Diskussionsrunden oder durch die gelegentliche Teilnahme an Demonstrationen zum Ausdruck gebracht.
Heute zeigt sich jedoch ein gänzlich anderes Bild. So ergab eine Befragung im Auftrag des Digitalverbands Bitkom, dass sich 90% der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland mehr Mitsprache bei Entscheidungen auf der lokalen Ebene wünschen. Die Bereitschaft und der Wunsch, sich aktiv einzubringen, sind also gegeben. Insbesondere in Kommunen und auf Landesebene entwickelten und entwickeln sich vor diesem Hintergrund neue Formen der politischen Beteiligung.
In der Vergangenheit haben Kommunen vor allem auf klassische Vor-Ort-Informationsveranstaltungen gesetzt, in deren Rahmen sich die Bürgerinnen und Bürger einbringen können. Vor-Ort-Veranstaltungen haben jedoch den Nachteil, dass sie eine eher kleine Gruppe ansprechen. Eine viel breitere Öffentlichkeit wird durch orts- und zeitunabhängige Online-Formate erreicht. Angesichts des Ziels, bei allen Angeboten der Bürgerbeteiligung möglichst die gesamte (Stadt-) Gesellschaft anzusprechen und niemanden auszuschließen, ist dieser Punkt von entscheidender Bedeutung. Man denke an die beruflich und familiär stark eingebunden Familienmutter oder den Familienvater – schwer vorzustellen, dass diese bzw. dieser regelmäßig zwischen Job, Kita, Abendessen und Hausarbeit an abendfüllenden Veranstaltungen teilnimmt. Zudem können die digitalen Formate relativ leicht, schnell und kostengünstig umgesetzt werden.
Bürgerbeteiligung als Chance begreifen
Vor diesem Hintergrund setzen viele Kommunen bei der Einbeziehung ihrer Bürgerinnen und Bürgern inzwischen vermehrt auf zusätzliche, informelle digitale Formate. Mit diesen Formaten bieten sie ihren Bürgerinnen und Bürgern eine einfache Möglichkeit, sich bei unterschiedlichen Themen einzubringen – gerne auch mit dem Tablet vom Sofa aus. Digitale Bürgerhaushalte, Bürgerbudgets, Beteiligungen an Integrierten Städtebaulichen Entwicklungskonzepten, Stadtteilforen, kontinuierliche Ideensammlungen, Online-Bürgerbefragungen und weitere Verfahrensformate zählen zum Standard-Werkzeugkasten, wobei Vor-Ort-Verfahren keineswegs an Bedeutung verlieren (sollten).
Bürgerbeteiligung bietet, egal ob digital oder vor Ort, enormes Potenzial und zahlreiche Chancen. Zum Beispiel kann die Legitimität genauso wie die Qualität von politischen Entscheidungen gestärkt werden, indem die Bürgerinnen und Bürger durch ihre Beteiligung am jeweiligen Thema ein Verständnis für die Rahmenbedingungen entwickeln und ihre Expertise sowie ihren Erfahrungsschatz in die spätere Entscheidung einfließt. So wird an mancher Stelle im Zusammenhang mit (digitaler) Bürgerbeteiligung gar euphorisch von einer neuen Form der Basisdemokratie geschwärmt. Denn: Sie eröffnet Menschen einen Zugang zur Politik, den sie ansonsten nicht hätten. Jedoch gibt es auch hier Kritikerinnen und Kritiker. Ihre Befürchtung: Bürgerbeteiligung führe gerade dazu, dass Personengruppen ausgeschlossen und demokratische Entscheidungsverfahren unterlaufen würden – erst recht, wenn sich die Bürgerbeteiligung vornehmlich digital abspielt. Angesichts der immer noch unzureichenden Zugangsmöglichkeiten zu digitalen Medien innerhalb der Bevölkerung ist das nicht ganz unbegründet; hinzu kommen Personen, die sich schlicht nicht digital beteiligen wollen. Bei der Vor-Ort-Bürgerbeteiligung wiederum werden all jene ausgeschlossen, die nicht die (zeitliche) Kapazitäten haben, um an Vor-Ort-Veranstaltungen teilzunehmen. Und selbst wenn man mit großem Aufwand sowohl digitale als auch analoge Angebote schafft, wird man dennoch viele Teile der Bevölkerung nicht erreichen.
Beide Positionen – die optimistische wie die pessimistische – stehen zunächst konträr zueinander. Dennoch sind sie für sich genommen zunächst vollkommen nachvollziehbar. Schaut man etwas genauer hin, sind jedoch beide von falschen Erwartungshaltungen geprägt.
Richtig ist, dass es ein zentrales Prinzip der repräsentativen Demokratie ist, dass politische Entscheidungen klar zuordenbar sind, nämlich den gewählten Repräsentantinnen und Repräsentanten. Diese Entscheiderinnen und Entscheider können dann wiederum im Falle von Unzufriedenheit mit den jeweiligen Entscheidungen bei der nächsten Wahl abgewählt werden.
Kritikerinnen und Kritiker sehen dieses Prinzip nun in Gefahr, wenn politische Entscheidungen nicht mehr von gewählten Vertreterinnen und Vertretern getroffen werden, sondern von anonymen Internetnutzerinnen und -nutzern, die auf Internetplattformen auf einen „Gefällt-mir-Button“ klicken oder von lauten Minderheiten, die die Zeit haben, sich in Vor-Ort-Bürgerbeteiligungsverfahren einzubringen. Das klingt einleuchtend. Aber es sollte nicht vergessen werden:
(Digitale) Bürgerbeteiligung ist in den allermeisten Fällen als informelles Verfahren angelegt.
Informelle Bürgerbeteiligung zeichnet sich dadurch aus, dass ihre Ausgestaltung nicht gesetzlich geregelt ist. Sie wird in allen Fällen freiwillig angeboten (daher wird sie häufig auch „freiwillige Bürgerbeteiligung“ genannt). Ein weiteres Kennzeichen der informellen Bürgerbeteiligung ist, dass ihre Ergebnisse nicht verbindlich sind. Das heißt: Die politisch gewählten Repräsentantinnen und Repräsentanten sind nicht gezwungen, sich bei ihrer Entscheidung an die Ergebnisse der Bürgerbeteiligung zu halten, sodass die letztendliche Entscheidung immer bei ihnen verbleibt. Oder kurz: Das Ziel von informeller Bürgerbeteiligung ist es nicht, Entscheidungen zu fällen.
Das sieht bei der formellen Bürgerbeteiligung teilweise anders aus. Sie ist gesetzlich vorgeschrieben, wobei z. B. auch die jeweils zu beteiligenden Akteure sowie der Ablauf der Bürgerbeteiligung klar geregelt sind. Nicht bei jeder Form der formellen Bürgerbeteiligung ist deren Ergebnis bindend. Dies ist jedoch beim Bürgerentscheid der Fall, der von manchen zur formellen Bürgerbeteiligung gezählt wird, auf jeden Fall jedoch im weiteren Sinne mit unter den Begriff „Bürgerbeteiligung“ gefasst wird. Der Bürgerentscheid ist ein Verfahren der direkten Demokratie. Bürgerentscheide werden entweder durch ein Bürgerbegehren, d. h. mittels Sammlung einer festgelegten Mindestanzahl von Unterschriften, oder per Mehrheitsbeschluss der kommunalen Vertreterinnen und Vertreter initiiert. Die Fragen, die bei Bürgerentscheiden gestellt werden, müssen mit „Ja“ oder „Nein“ beantwortbar sein. Anders als bei der informellen Bürgerbeteiligung ist das Ergebnis des Bürgerentscheids bindend.
All dies ist jedoch bei der informellen Bürgerbeteiligung nicht der Fall. Sie hat erst gar nicht den Anspruch, ein direktdemokratisches Verfahren zu sein oder zu bindenden Entscheidungen zu führen. Vielmehr setzen die Verfahren der informellen Bürgerbeteiligung auf Dialog. Bürgerinnen und Bürger erhalten die Möglichkeit, sich auszutauschen und ihre Ideen, (Einzel-)Meinungen und Vorschläge zu festgelegte Themen einzubringen. Eine Garantie, dass ihre Vorschläge bei der späteren Entscheidungsfindung auch tatsächlich bedacht werden, erhalten sie jedoch nicht.
Bürger mit einbeziehen: Bessere Entscheidungen, breitere Akzeptanz
Informelle Bürgerbeteiligung stößt eine informierte Meinungsbildung an. Dies wird durch die Diskussion mit Mitbürgerinnen und Mitbürgern verstärkt. Das hilft, verschiedene Perspektiven auf die jeweilige Problemlage einnehmen zu können und „das Gegenüber“ zu verstehen. So ist es sicher nicht selten, dass Bürgerinnen und Bürger erst im Zuge einer Bürgerbeteiligung zur Neuaufteilung von Verkehrsraum erkennen, dass ein breiterer Radweg nur möglich wird, wenn Bäume gefällt werden.
Darüber hinaus erleichtert Bürgerbeteiligung eine verbesserte Informationslage von Politik und Verwaltung, indem Bürgerinnen und Bürger als Alltagsexperten sowie Experten für ihr direktes Umfeld auftreten. Bspw. wird Mitarbeitenden in der Verwaltung erst im Zuge von Bürgerbeteiligungsverfahren bewusst, dass Standort X für die neue Schule für viele Bürgerinnen und Bürger problematisch ist; oder dass die Unterführung Y zu düster ist und daher viele für den deshalb in Kauf genommenen Umweg ins Auto steigen, statt das Fahrrad zu nutzen. Bürgerbeteiligungsverfahren können Bedürfnisse und Sorgen der Bürgerschaft offen legen und zugänglich machen. Gleiches gilt für kontroverse Fragen und unterschiedliche Interessenlagen. Durch das Zwischenschalten eines Dialoges zwischen Bürgerschaft und Politik kann das klassische Schema „politische Entscheidung treffen → Entscheidung verteidigen → gegen Widerstände umsetzen“ durchbrochen werden, indem die Akzeptanz der politischen Entscheidungen erhöht wird. Dies ist jedoch keineswegs ein Selbstläufer. Zahlreiche Voraussetzungen müssen dafür erfüllt sein.
Erstens müssen Politik und Verwaltung frühzeitig und transparent informieren. Dies bedeutet auch, dass das jeweilige Thema zielgruppenspezifisch aufbereitet werden muss. Dazu gehört auch, dass die Ziele des Verfahrens klar benannt werden. Gelingt dies nicht, ist eine zielgerichtete Diskussion im Rahmen des Beteiligungsverfahrens nicht zu erwarten.
Zweitens muss die Bürgerbeteiligung als entscheidungsrelevant empfunden werden. Das bedeutet keineswegs, dass jede im Zuge der Beteiligung geäußerte Forderung umgesetzt werden muss. Aber es muss deutlich werden, dass die Ideen der Bürgerinnen und Bürger bei der späteren politischen Entscheidung Berücksichtigung finden. Damit einher geht die Notwendigkeit, sowohl über den Ausgang des politischen Verfahrens als auch über Zwischenschritte genau so zu informieren, wie über den Gestaltungsspielraum und die Ziele des Verfahrens. Dabei müssen Städte und Gemeinden deutlich machen, inwiefern die Ergebnisse der Bürgerbeteiligung Beachtung finden und warum manche Ideen nicht umgesetzt werden (können). Um all dies umzusetzen, bietet es sich an, ein Regelwerk für die informelle Bürgerbeteiligung zu formulieren. Dies machen immer mehr Kommunen in Form von sogenannten Leitlinien für gute Bürgerbeteiligung.
Drittens muss aktiv an einer Beteiligungskultur gearbeitet werden. Bürgerbeteiligung, egal ob digital oder analog, ist kein Selbstläufer. Sich fokussiert und konkret außerhalb von politischen Parteien in politische Fragen einzumischen, ist für viele Bürgerinnen und Bürgern etwas Neues. Die Möglichkeit, sich direkt zu beteiligen, muss daher zunächst bekannt gemacht, beworben, vertraut gemacht und eingeübt werden. Auch muss Vertrauen dahingehend aufgebaut werden, dass die Eingaben aus der Bürgerbeteiligung auch tatsächlich verarbeitet werden, auch wenn letztlich ein positiver Beschluss ausbleibt. All dies geschieht nicht von heute auf morgen, sondern ist ein lebendiger, auf Dauer angelegter Prozess.
Informelle Bürgerbeteiligung: Ergänzung der repräsentativen Demokratie
Wenn von Seiten der Kommunen (bzw. Landkreise oder Länder) geeignete Rahmenbedingungen geschaffen werden und Bürgerbeteiligung gut vorbereitet und durchgeführt wird, kann (digitale) Bürgerbeteiligung zu einem wichtigen Unterstützungspfeiler der repräsentativen Demokratie werden. Denn sie birgt das Potenzial, auf Seiten der Bürgerinnen und Bürger Interesse an kommunalpolitischen Themen zu steigern, Verständnis für Abläufe in Verwaltung und Politik zu fördern und eine Dialogkultur zu schulen. Verwaltung und Politik profitieren ebenso, indem die Akzeptanz von geplanten Maßnahmen erhöht und das Verständnis der Rahmenbedingungen von politischen Entscheidungen verbessert wird. Insgesamt führt gut durchgeführte (digitale) Bürgerbeteiligung zu einem gesteigerten gegenseitigen Verständnis und Vertrauen zwischen Bürgerschaft, Verwaltung und Politik. Auch dieser Umstand stärkt die repräsentative Demokratie.
Über den Autor:
Antonio Arcudi, M.A, ist Teamleiter des Bereichs Bürgerbeteiligung der wer denkt was GmbH und seit Mitte 2013 im Unternehmen tätig. Im Jahr 2014 beendete er sein Studium der Politikwissenschaft, der Wirtschaftswissenschaften und der internationalen Studien an der TU Darmstadt und der Goethe-Universität Frankfurt. Seine fast 10-jährige Erfahrung im Bereich der Bürgerbeteiligung setzt er zielführend bei der Konzeption von Beteiligungsprozessen, bei der Beratung zur Auswahl der geeigneten Methoden und bei der Moderation von Veranstaltungen ein.